Ruth geht - oder rollt - ihren Weg  

Meine Kollegin Dagmar Manz, PDL (Pflegedienstleitung) unseres ambulanten Pflege- und Betreuungsdienstes, hat mir einen Tipp gegeben: Ich solle doch bitte mal Ruth Fleig anrufen, sie möchte gerne berichten, wie dankbar sie ist, dass der Verein leben mit Behinderung Ortenau sie so individuell betreuen kann. Ruth benötigt täglich in einem bestimmten Zeitabstand pflegerische Unterstützung. Beim Telefonat rede ich mit einer sehr sympathischen jungen Frauenstimme und bin gespannt, wen ich bei meinem Besuch in Lahr im Büro der Firma Fleig Schmieder Datensysteme kennenlerne.

Einige Wochen später steige ich eine lange Treppe zum Büro hinab, öffne die Eingangstür und eine hübsche kleine Frau strahlt mich aus ihrem Rollstuhl an. Mit den Worten „Guten Morgen. Ich habe Sie schon erwartet“ werde ich begrüßt.

Das ist Ruth: 23 Jahre, Auszubildende als Fachpraktikerin für Bürokommunikation, modisch gekleidet, lackierte Fingernägel und ein kleines Tattoo auf der Innenseite des rechten Unterarms. Mit ihr gemeinsam im Büro arbeiten ihr Vater Kurt Fleig, Firmeninhaber der Firma FSD und ein weiterer Mitarbeiter. Ruth hat einen eigenen Arbeitsplatz mit zwei großen Bildschirmen. So kann sie ihren Vater bei organisatorischen Aufgaben unterstützen. Die Schule, die sie im Rahmen ihrer Ausbildung besucht, ist dem CJD in Offenburg angegliedert. Zwei Tage pro Woche ist Ruth dort, erwirbt Berufskompetenz zu den Themen Datenverarbeitung (Word und Exel), Angebotsvergleich, Tarifliche Grundlagen und lernt zusätzlich Fächer wie Deutsch, Englisch, Gemeinschaftskunde und WiSo (Wirtschaft und Soziales). Vor zwei Jahren ist Ruth zuhause ausgezogen. Sie genießt ihre Eigenständigkeit. Aber, so berichtet sie, der Auszug war nicht geplant. „Ich dachte immer, aufgrund meiner Behinderung ist es nicht möglich allein zu leben. Doch wenn man nachdenkt, geht fast alles. Und daraus wurde dann eine Wohnungsbesichtigung in einem Neubau in Lahr.“ Leider ist das Thema Mobilität immer noch sehr negativ behaftet für Ruth: „Mit meinem Rollstuhl kann ich nicht rausgehen. Jede noch so kleine Unebenheit bereitet mir Schmerzen und die kleinen Absätze und Barrieren, zum Beispiel auf den Gehwegen, sind oft für mich ein unüberwindliches Hindernis.“ Sie hat einige Freundinnen, würde auch unheimlich gerne öfters weggehen, doch die Blicke anderer und die Skepsis ihr gegenüber, verunsichern sie, empfindet sie als verletzend. Sie würde sich auch in einem Verein oder in einer Gruppe engagieren, doch wo? In ihrer körperlichen Beweglichkeit ist Ruth eingeschränkt, „aber geistig bin ich mobil, kann organisieren, reden, bin ganz normal.“ Sie ärgert sich über diese Benachteiligung und über die Barrieren der Menschen im Kopf. Da sprudelt dann auch schon mal ihr Unmut aus ihr raus - wie ich finde - sehr zu recht. Woher kommen diese Schranken in den Köpfen, wo doch alle so viel über gleiche Rechte für alle diskutieren, diese auch einfordern. Doch wer sind „alle“? Gehören Rollstuhlfahrer und Menschen mit Behinderung nicht auch dazu? Da spürt man Enttäuschung und auch Traurigkeit aus Ruths Worten, denn sie könnte, wie alle jungen Leute, im Rahmen ihrer Möglichkeiten am sozialen Leben teilnehmen.

Es nervt sie, dass sie oft wie eine Bittstellerin die ihr zustehenden Leistungen beantragen muss. „Gerade wir jungen Menschen spüren so oft die Nachteile, die unsere Behinderung mit sich bringt. Warum macht man uns das Leben so unnötig schwer?“ Und dann kommt sie auf die Unterstützung durch den Verein Leben mit Behinderung Ortenau zu sprechen. Sie berichtet, wie unkompliziert und hilfsbereit dort die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind. Wie spontan und flexibel der ambulante Pflege- und Betreuungsdienst ihr hilft und sie unterstützt. Ihr inniger Wunsch lautet: „So sollte das in der Pflege immer sein, dass der Mensch im Mittelpunkt steht und nicht die Uhr oder die Kostenstelle.“

Auch die Unterstützung ihrer Eltern ist für sie von unschätzbarem Wert. „Sie machen so viel für mich. Mein Vater hat mich sogar bei einem Besuch in Hamburg auf das Museumsschiff Rick Rickmers geschleppt. Ich wollte unbedingt dieses Schiff anschauen. Da hat er mich einfach hochgetragen“ erzählt sie lachend. Da meldet sich auch ihr Vater zu Wort: „Ja, wir unterstützen Ruth bei allem, was sie tut. Wir sehen, wie sich die Gesellschaft wandelt. Ich denke, dass wir die Themen Wohnen, Arbeit und Freizeit viel breiter denken müssen in Zukunft, um als Gesellschaft den jungen Menschen mit Behinderung Perspektiven bieten zu können.“ Dann fragt er mich: „Wie sind Sie ins Büro gekommen?“ Ich überlege, dann geht mir ein Licht auf: ja, klar! Über eine Treppe. Und Ruth? „Da hat der Nachbar sich bereit erklärt einen Weg durch die Wiese zu bauen, der sogar mit einem Wegerecht verankert ist“ berichtet der Vater.

Inklusion funktioniert also, wenn alle bereit sind an einem Strang zu ziehen. Dann können junge Menschen mit Behinderung an all dem teilhaben, was für Jugendliche und junge Erwachsene ohne Behinderung selbstverständlich ist. Dafür kämpft Ruth mit Mitteln, die ihr zur Verfügung stehen: Sie hat, auch deshalb, gemeinsam mit einer Freundin einen Account auf Instagram eingerichtet. Dort wollen die beiden aus Ihrem Alltag berichten. Wer ihnen folgen möchte: #the__hotwheels

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